I. Warum kann mein Kind sich bei den Hausaufgaben nicht konzentrieren?

Beim häuslichen Lernen in Form von Hausaufgaben, Vorbereitung auf Klassenarbeiten, Schulaufgaben, Tests, Aufarbeitung von Stofflücken usw. stehen die meisten Eltern irgendwann vor dieser Frage: Warum ist mein Kind bei den Hausaufgaben oft unmotiviert und unkonzentriert, findet keinen Anfang und schiebt sein Pflichtprogramm entweder vor sich her oder trödelt so sehr beim Lernen, dass dabei keine zufrieden stellenden Ergebnisse herauskommen?

Verantwortlich dafür ist vor allem ein unwillkürlicher Widerstand gegen Tätigkeiten, die statt mit viel Freude mit Unlust verbunden sind. Diesen Widerstand kennen wir alle und sind mehr oder weniger stark davon betroffen. Im Laufe unseres Lebens haben wir irgendwann gelernt, bewusster und effizienter damit umzugehen, uns selbst zu motivieren und nicht in die überall lauernden Konzentrationsfallen zu tappen.

Schüler, der das Thema „Hausaufgaben“ pantomimisch darzustellen scheint.

Bei verschiedenen Übungen zur Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung bitte ich meine Schüler, bestimmte Begriffe in ihre innere Suchmaschine einzugeben. Da sie im Leben aller Schüler einen großen Raum einnehmen, gehören die Hausaufgaben zu den Suchbegriffen, die am häufigsten eingegeben werden.

Die Schüler können auf einer Skala von plus zehn bis minus zehn angeben, welche Gefühle sie wahrnehmen, sobald sie an einen bestimmten Begriff denken und welche inneren Bilder dabei auftauchen, sofern sie über eine bildhafte Vorstellungskraft verfügen.

Zu den Themen Schule und Lernen gibt es keine Suchbegriffe, die es auf höhere Minuswerte bringen als die täglichen Hausaufgaben. Wenn Schüler ihren Job während des Unterrichts gut erledigen, dann reicht die Energie für das zusätzliche Lernen am Nachmittag für maximal dreißig bis sechzig Minuten aus.

Auf den weiterführenden Schulen ist es jedoch keine Seltenheit, dass  Schüler zwei Stunden oder mehr mit den Hausaufgaben beschäftigt sind. Ich spreche nicht von denen, die dabei ausgiebig trödeln und bei konzentriertem Lernen weniger als eine Stunde bräuchten.

Aus meiner eigenen Zeit als Gymnasiallehrer weiß ich, dass bei manchen Lehrern die Menge der Hausaufgaben als Rankingfaktor für das Ansehen im Lehrerkollegium gilt. Sofern Schüler dann gegen unnütze Hausaufgaben rebellieren, habe ich dafür großes Verständnis.

Wenn Sie sich ein Bild davon machen wollen, was in einem Kind vor sich geht, das sich zu einem Zeitpunkt X einer mit Lust verbundenen Tätigkeit Y hingeben könnte und sich stattdessen mehr oder weniger gezwungen bemüht, eine unlustbetonte Aufgabe zu erledigen, bitte ich Sie, mit mir gemeinsam kurz das Gesamtsystem Ihres Kindes zum Zeitpunkt X zu scannen.

Wir sehen die mentalen Innenwelten unseres Kindes voll von faszinierenden Beschäftigungen, die jetzt, in diesem Augenblick, realisiert werden könnten. Das System antizipiert auf der körperlichen, geistigen und seelischen Ebene die winkenden Lusteinheiten mit einer Intensität, die sich Erwachsene nur vorstellen können, wenn sie ihre eigene Kindheit noch lebhaft in Erinnerung haben. Und gleichzeitig hassen die meisten Schüler ihre Hausaufgaben, die sie daran hindern das zu tun, was ihnen Freude bereiten würde.

Alle Zellen, nicht nur die im Gehirn, fordern die Verwirklichung dessen, was das Gesamtsystem mit jeder Körperzelle will. Im Kopf des Kindes ist durchaus das Bewusstsein vorhanden, dass es jetzt eigentlich die ihm aufgetragenen Pflichten erledigen müsste. Und wenn Eltern, die ihr Kind schon tausendmal an diese Pflichten erinnert haben, glauben, es hätte sie nicht verstanden oder sofort wieder vergessen, dann irren sie sich. Vom Kopf her ist das den meisten Kindern schon im Grundschulalter klar und später quasi eine Binsenweisheit. Nur entscheidet im entscheidenden Augenblick nicht der Kopf, sondern eine andere Instanz:

II. Einfluss des Willens auf Konzentration und Motivation

„Faktisch ist es so, dass emotionale Zugänge messbar schneller ablaufen als unsere kognitiven, reflektierenden. Das heißt, bevor «wir selbst» uns entscheiden, etwas zu «wollen», haben die für unsere Emotionen zuständigen neuronalen Strukturen die Situation schon «bewertet» und entsprechende Aktionspotentiale aufgebaut.“
Ralf Caspary (Hg.), Lernen und Gehirn – Wege zu einer neuen Pädagogik, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 2008, Beitrag von Heinz Schirp: Neurowissenschaften und Lernen, S. 118

Diese „Entdeckung“ der modernen Neurowissenschaften hatte der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer bereits im 19. Jahrhundert antizipiert, mit seiner – von Albert Einstein gern zitierten – Behauptung, der Mensch könne zwar tun was er wolle, aber nicht wollen was er wolle. Wie Schopenhauer verneint auch der bekannte Hirnforscher Professor Gerhard Roth die Willensfreiheit, die heutzutage immer noch von den meisten Zeitgenossen als eine unbestreitbare Tatsache angesehen wird. Seine Stellungnahme wird in einem Artikel des Arthur Schopenhauer Studienkreises zitiert. Lernpädagogisch ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, dass es sinnlos ist, einem Kind gebetsmühlenartig zu erklären, warum es so wichtig ist, sich bei den Hausaufgaben auf den Lernstoff zu konzentrieren oder es mit Versprechungen bzw. Drohungen zum fokussierten Lernen zu veranlassen.

Wenn das Kind jetzt keinen stärkeren Impuls zum konzentrierten Lernen erhält als zu dessen Verweigerung in Form von Wegträumen, Trödeln usw. machen Appelle an seine Vernunft ebenso wenig Sinn wie Zuckerbrot oder Peitsche. Selbst wenn es im Einzelfall gelingt, durch solche Interventionen das Kind vorübergehend zum Arbeiten anzutreiben, steht der Nutzen in keinem Verhältnis zu der Beschädigung der intrinsischen Motivation, die einen kräfte- und nervenzehrenden Negativkreislauf in Gang setzt, mit dem Ergebnis, dass immer mehr Aufwand betrieben werden muss, um das Kind extrinsisch zu motivieren, bei gleichzeitig sinkender Lerneffizienz. Das kann so weit gehen, dass wegen der Hausaufgaben auf beiden Seiten die Nerven blank liegen und schließlich das Familienklima insgesamt darunter leidet.

 Eine zuverlässige ADS-Diagnose zu stellen, ist bei lebenden Patienten bereits schwierig, posthum ist sie noch weniger aussagekräftig, da ein Tatsachenbeweis nicht mehr möglich ist und nur auf der Basis von Indizien spekuliert werden kann. Im Internet gibt es zahlreiche Quellen, die es für wahrscheinlich halten, dass Albert Einstein zu seinen Lebzeiten positiv auf ADS worden wäre.

Einem Kind, das unkonzentriert ist, nicht weil es sich nicht konzentrieren will, sondern nicht konzentrieren kann, den Befehl zu geben, sich zu konzentrieren, ist vergleichbar damit, jemandem, der verkrampft und blockiert ist, zu sagen: Nun entspann dich doch einfach! Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Betroffene danach noch verkrampfter sein als vorher, weil man etwas von ihm erwartet, was er längst erledigt hätte, wenn er es denn könnte. Der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sei-spontan-Paradoxie„.

Wenn Sie Ihr Kind beim Erledigen seiner Hausaufgaben zu mehr Konzentration auffordern, dann klingt das in seinen Ohren, als hätten Sie es gefragt: „Warum bist du Idiot schon wieder so unkonzentriert!“ Besser wäre es, sie helfen ihm dabei, konzentrierter zu sein, indem Sie selber konzentriert, entspannt, präsent, gelassen, fröhlich, witzig, kreativ, spontan und inspirierend sind und nicht mehr von ihm erwarten, als was es unter den gegebenen Umständen leisten kann. So können Sie es vermeiden, in die Falle der Sei-konzentriert-Paradoxie zu tappen.

Was können Sie sonst noch tun, um den Teufelskreis einer chronischen Konzentrationsschwäche zu durchbrechen? Sie können aus der Erkenntnis des Philosophen Schopenhauer und der Neurowissenschaften praktische Konsequenzen ziehen, indem Sie sich die Frage stellen, warum sind die lernfeindlichen Impulse meines Kindes zu einem Zeitpunkt X stärker als die lernfreundlichen, und warum überwiegen die Phasen der Ablenkung gegenüber denen der Konzentration? Diese Frage wäre leicht zu beantworten, wenn Ihnen folgende Möglichkeiten zur Verfügung stünden:

III. Was denkt, fühlt und empfindet mein Kind vor den Hausaufgaben?

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem Raum mit einer riesigen zentralen Leinwand und zwei Monitoren, auf denen Realtime-Grafiken zu sehen sind. Auf der Leinwand werden alle Gedanken und Bilder präsentiert, die Ihrem bei den Hausaufgaben durch den Kopf gehen. Die Gedanken erscheinen in Textform, während die bildhaften Vorstellungen teils als Standbilder, teils als Filmsequenzen zu sehen sind. Sie können beim Zuschauen auch differenzieren zwischen Gedanken und Bildmaterial, das Ihrem Kind zu dem jeweiligen Zeitpunkt bewusst ist oder auf unbewusster Ebene abläuft.

Auf einem der beiden Monitore sehen Sie oben zwei große bewegliche Farbsäulen mit einer Skala von -10 bis +10. Sie zeigen die Lust-Unlust-Werte bzw. die Ablenkungs- und Konzentrationswerte Ihres Kindes in Realtime an. Dominieren Lust- oder Konzentrationswerte, so bewegt sich die Säule in grüner Farbe von +1 bis +10, bei Unlustwerten in roter Farbe zwischen -1 und -10. Unterhalb der großen Säule werden auf Farbsäulen mit unterschiedlichen Größen links die Lust-Unlust-Werte nach bestimmten Gefühlen differenziert. Innerhalb der Bandbreite von +1 bis +10 wird dort angezeigt, wie stark zum jeweiligen Zeitpunkt bestimmte emotional gefärbte Impulse sind, wie zum Beispiel Wut, Freude, Ärger, Neugier, Langeweile, Frust, Euphorie, Entspannung, Stress usw.

Wenn Sie wollen, können Sie sich auch noch rechts von den Gefühlssäulen bestimmte körperliche Werte anzeigen lassen, wie zum Beispiel Herzfrequenz, Atemtiefe, -frequenz und -rhythmus sowie bestimmte Energiepunkte vom oberen Dantien bis zu den Fußsohlen. Alternativ können Sie sich auch einfach nur die körperliche Verfassung anzeigen lassen, in denen sich der Zustand der Energiepunkte widerspiegelt, das heißt Säulen mit den Grenzwerten müde <> energiegeladen, angespannt <> entspannt, ruhig <> unruhig, Wohlgefühl <> Unwohlsein.

Mit Ihrem Kind haben Sie eine gemeinsame Lernaktion verabredet, die in gut fünf Minuten beginnt. Sie haben sich die wichtigsten Daten notiert, die Sie dem dreifachen Scan entnehmen konnten, und halten die jeweilige Schwankungsbreite innerhalb der letzten fünf Minuten wie folgt fest:

1. Lust-Unlust-Werte > zwischen -4 und +9
Bei den während der Hausaufgaben gescannten Gedanken und Vorstellungen wurden so viele Texte, Bilder und Filmsequenzen angezeigt, dass Sie diese nicht einmal binnen Stunden vollständig hätten notieren können. Deshalb beschränken Sie sich auf das Wesentliche.

Sie sehen einen Jungen mit verschiedenen angsteinflößenden teils tierischen, teils menschlichen Monstern kämpfen, die Sie teilweise an altgriechische Ungeheuer erinnern wie Minotaurus, Kerberos, Medusa und die Zyklopen. Ob dieser Junge Ihr Sohn Jakob ist, lässt sich nicht eindeutig erkennen. Er wird Sie später aufklären, wenn Sie ihn danach fragen.
Diese Filmsequenzen werden manchmal von Standbildern und Zeitlupenszenen unterbrochen, bei denen es überwiegend um Tore geht, die Fußballspieler erzielen. In einzelnen dieser Bilder taucht auch Ihr jubelnder Jakob auf.

Die Bilder von den altgriechischen Ungeheuern, die Jakob gerade durch den Kopf gehen,
stammen aus dem Film Percy Jackson – Diebe im Olymp, den Jakob erst wenige Tage zuvor
gesehen hatte. Besonders bei Jungen scheinen Filmsequenzen eine große Rolle zu spielen, bei
den bildhaften Innenimpulsen, quantitativ wie qualitativ.

Ich erinnere mich noch gut an einen elfjährigen Schüler, der bei einer speziellen Übung zur
Betrachtung bildhafter Innenwelten – die auf dem Rücken liegend, mit geschlossenen Augen
durchgeführt wird – monatelang fast ausschließlich Bilder aus Star-Wars-Filmen beschrieb, die
er entweder in den Filmen gesehen hatte, oder die seiner eigenen Fantasie entstammten.

Zwischendurch blicken Sie auch in Ihr von Jakob projiziertes eigenes Gesicht, das Ihnen persönlich erschreckend gestresst, genervt und manchmal geradezu strafend erscheint und das, obwohl Sie immer versuchen, ihm Mut zu machen. Wortfetzen wie „blöde Hausaufgaben“, „Was bringt mir das Mathe-Lernen, wenn die nächste Arbeit doch wieder fünf ist?“, deuten darauf hin, dass er gerade an die anstehende gemeinsame Lernaktion mit Ihnen denkt.

2. Bei den emotional gefärbten Impulsen ragen besonders heraus: Euphorie (9) und Wut (5), wobei die euphorischen Impulse quantitativ klar dominieren. Auffällig sind häufige und starke Stimmungsschwankungen, die meist von so kurzer Dauer sind, dass sie weder Jakob selber noch einem potenziellen Beobachter auffallen dürften. Dass Emotionen das Lernen beeinflussen, ist eine Binsenweisheit, doch die heutige Wissenschaft kann immer besser belegen, wie dies geschieht und welche Auswirkungen die emotionale Verfassung eines Schülers auf seine Motivation und Lernleistung hat, insbesondere bei den Hausaufgaben.

3. Bei der körperlichen Verfassung hat sich der Wert im Verlauf des fünfminütigen Scans bezüglich müde <> energiegeladen von +4 auf -2 verändert, bezüglich Wohlgefühl <> Unwohlsein von +4 auf -1, während es bei den übrigen Werten nur geringfügige Veränderungen gibt, bis auf eine Ausnahme. Seine Atmung bewegt sich überwiegend im Normalbereich, das heißt, die Atemtiefe ist mit 2,5 Liter pro Atemzug mäßig, die Atemfrequenz beträgt 18 Züge pro Minute und der Atemrhythmus ist relativ stabil. An drei Stellen bricht das Atemsystem aber für einige Sekunden plötzlich zusammen. Es kommt zu Aussetzern bei der Atmung und von Rhythmus kann nicht mehr die Rede sein. Die Sauerstoffzufuhr entspricht kurzfristig der eines Tiefseetauchers ohne Atemmaske.

IV. Hausaufgaben aus der Kinderperspektive: vom Himmel in die Hölle

Wenn Sie sich gleich in Jakobs Zimmer begeben, um mit ihm zu lernen, werden Sie einen Jungen vorfinden, der sich gerade auf dem Weg vom Paradies in die Hölle befindet. Seine lustbetonten Innenimpulse haben es ihm ermöglicht, die letzten Minuten vor Beginn der Lernzeit zu genießen, obwohl Sie sein Smartphone für kurze Zeit einkassiert hatten, um zu verhindern, dass das früher übliche Kampfritual um jede zusätzliche Spielminute den Lernstart verzögern und die Stimmung zwischen Mutter und Sohn bereits vergiften würde, ehe der eigentliche Kampf an der „Mathefront“ begonnen hätte.

Auf der zentralen Leinwand konnten Sie gerade beobachten, wie Jakob den Smartphon-Entzug durch Hinwendung zu seinem permanent im Hintergrund laufenden Homekino mühelos kompensieren konnte, da sein Bewusstsein bei fehlenden äußeren Lustanreizen automatisch auf innere Lustszenarien umschaltet und das umso mehr, wenn von außen auch noch massive „Unlusttruppen“ im Anmarsch sind.

Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie gleich, sobald Sie sein Zimmer betreten, als feindliche Macht betrachtet werden, die es darauf abgesehen hat, ihm seine Lust zu rauben und sie durch Frust zu ersetzen. Der von ihm wahrgenommene Stress, das Genervtsein und der strafende Blick in Ihren Augen mögen zum Teil Feindbildprojektion sein, vermutlich aber auch in gewissem Maße die Widerspiegelung Ihres eigenen Frusts gegenüber dem „matheallergischen“ Sohn, ein Frust, der sich in Ihren Gesichtszügen nach unzähligen vergeblichen Lehr- und Lernbemühungen mehr oder weniger subtil automatisiert hat …

Manche Esel brauchen äußere Anreize, um sich zu bewegen. Dem weisen Esel genügt es sich vorzustellen, wie die Bewegung als solche ihm guttut.
Schüler, die das von selbst nicht schaffen, können diese Technik trainieren.

Louis de Funès hatte mit seinem störrischen Esel alles Erdenkliche ausprobiert, um ihn zum Laufen zu bewegen: hässliche Grimassen, böse Blicke, an den Ohren ziehen. Dann hatte er damit gedroht, ihm seine Futterration zu halbieren, ihn im Stall einzusperren usw.

Als all dies nicht half, flüsterte er ihm ins Ohr, was für ein schönes Eselleben ihm bevorstünde, wenn er seinem Herrn gehorche, dass er sogar Karriere machen könne als königlicher Esel. Doch das Tier bewegte sich keinen Schritt.

In seiner Verzweiflung kam Louis schließlich die Idee mit der Möhre, die am Anfang gut funktionierte. Doch da der Esel nicht dumm war, streikte er, sobald er bemerkt hatte, dass er nie eine Möhre zum Fressen bekam und sie nur ein Trick war, um ihn zum Laufen zu bringen.

Der gerissene Louis gab ihm daraufhin immer eine Möhre als Belohnung, wenn er sich auch nur ein wenig bewegt hatte und steigerte die Ration, je weiter der Esel lief. Seitdem sieht man beide einträchtig und fröhlich durch die Lande ziehen.

Auch bei Schülern kann extrinsische Motivation dann die zweitbeste Lösung sein, wenn sich ohne sie zum eigenen Schaden nichts bewegen würde.

… Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie gleich in Jakobs Körpersprache, insbesondere in seinen Augen, die Widerspiegelung eines inneren Verbarrikadierens entdecken. Seien Sie froh, dass dieser Widerstand jetzt ein Gesicht hat. Bisher konnten Sie sich nicht erklären, warum Ihr Sohn – der laut einem Intelligenztest über einen weit überdurchschnittlichen IQ verfügen soll und der auch seine mathematische Begabung in der Vergangenheit schon hinreichend unter Beweis gestellt hatte, sich bei den Hausaufgaben oft wie ein Ochse verhält, der nicht nur seinen Karren nicht zieht, sondern sich selber auch noch dem Abschleppen widersetzt, wenn er in sumpfigem Gelände zu versinken droht.

Wie Sie der Säule mit den emotional gefärbten Impulsen entnehmen können, hat sich bei Jakob in den letzten Minuten auch Wutpotential aufgebaut, das bisher durch die Dominanz der euphorischen Impulse noch im Hintergrund geblieben ist, das Sie aber gleich womöglich mit voller Wucht zu spüren bekommen. Wenn Sie dann nicht noch Öl ins Feuer gießen wollen, empfehle ich Ihnen, diese Wut nicht persönlich zu nehmen, denn mindestens zwei ihrer Ursachen haben nichts mit Ihnen zu tun. Zum einen ist die Wut bedingt durch Jakobs relativ starke allgemeine Unlust beim Erledigen seiner Hausaufgaben sowie durch seine besondere mathespezifische Lernunlust.

Zum anderen gehört Ihr Sohn zu den Kindern, die durch Gefühle in Verbindung mit bildhaften Vorstellungen und Körperempfindungen von so hoher Intensität und Häufigkeit gesteuert werden, dass sie kaum in der Lage sind, den Automatismen entgegenzusteuern, auch dann nicht, wenn sie die Nachteile ihrer eigenen Steuerungsunfähigkeit erkennen. Sie sind nicht willentlich unmotiviert und strengen sich nicht bewusst an, unkonzentriert zu sein, sondern brauchen im Verhältnis zu Kindern mit geringerer emotionaler Impulsstärke ein Vielfaches an Energie, um sich zu motivieren oder zu konzentrieren.

Was das konkret bedeutet, sehen Sie, wenn Sie einen Blick auf die beiden Monitore werfen. Noch bevor Jakob den Weg vom Paradies der freien Gestaltungsmöglichkeiten in die Hölle der zwanghaften Reproduktion angetreten ist, ist die Hölle bereits mehrfach aufgeblitzt. Es sind die Momente, als seine Verdrängung der bevorstehenden Unlustphase punktuell versagt und sein Bewusstsein für wenige Augenblicke eine Zeitreise in die unmittelbare Zukunft antritt. Wie Sie auf dem Monitor sehen, hat allein die Vorstellung von dem, was auf ihn zukommt, dazu geführt, dass starke Wutgefühle in ihm aufkommen. Interessant ist jetzt ein Blick auf die Atemwerte, die sich gleichzeitig mit den negativen Gedanken und Vorstellungen verändern.

Die Atmung ist nun arhythmisch, die Atemfrequenz beträgt 26, das Volumen kaum mehr als einen Liter pro Atemzug. Sein Atemsystem hat also so reagiert, als sei er bereits in der Hölle angekommen. Dasselbe gilt für seine körperliche Fitness. Seine vor den Hausaufgaben noch dominierende geistige Frische wird plötzlich von Müdigkeitsanfällen heimgesucht und sein Wohlbefinden geht auch in den Keller, während der kurzen Zeit, in der der Vorschein der Hölle sein gesamtes System verfinstert. Wie Sie der Grafik entnehmen können, ist der Gedanke, dass seine Anstrengungen im Fach Mathematik von Anfang an vergeblich sind, besonders lähmend. Er kommt dem Befehl des Gehirns gleich, den internen Arbeitsspeicher zu schonen und möglichst wenige Bits und Bytes für die Abspeicherung der als sinnlos eingestuften Informationen zur Verfügung zu stellen.

V. Wenn Eltern bei den Hausaufgaben helfen: Chancen und Risiken

Was Sie gerade bei Jakob beobachten, geschieht zeitgleich in Ihrem eigenen Inneren, wenn auch mit anderen Inhalten und Impulsstärken. Auch Sie sind mehr oder weniger konditioniert bezüglich der Interaktionen, die zwischen Ihnen und Ihrem Sohn während der Hausaufgaben ablaufen. Jede Sekunde, die Sie mit ihm gemeinsam gelernt haben, von der Grundschule angefangen bis heute, ist in Ihrem Gehirn abgespeichert, nicht nur als neutrales Faktum, sondern als lebendiger Komplex, in dem all das enthalten ist, was Sie vorhin auf der großen Leinwand und den kleinen Monitoren beobachten konnten.

Alle Gedanken, Bilder und Vorstellungen, alle sinnlichen und emotionalen Eindrücke, die in der Vergangenheit beim gemeinsamen Lernen mit Jakob präsent waren, sind auch jetzt, in diesem Augenblick, im Hintergrund aktiv. Sie prägen Ihre momentane mentale, emotionale und physische Verfassung; wie stark, hängt davon ab, wie bewusst Ihnen diese Prozesse sind und in welchem Maße es Ihnen bereits gelungen ist, hausgemachte Lernwiderstände zu reduzieren und zu einer Atmosphäre beizutragen, in der beide Beteiligten ebenso klar und konzentriert wie entspannt und spontan sind und in der die Freude gegenüber dem Frust dominiert.

Ich empfehle Ihnen, sich Ihre eigene Leinwand und die beiden Monitore bei Gelegenheit in aller Ruhe anzuschauen, falls Sie das nicht schon getan haben. Eine Sache bitte ich Sie zu tun, noch bevor Sie gleich zu Jakob hinübergehen. Stellen Sie sich vor, bei dem gemeinsamen Lernen mit Ihren Sohn wären sekündlich ihre beiden Gesichter fotografiert worden. Das ergäbe Millionen von Bildern, die man gedanklich so auf eine gigantische Leinwand projizieren könnte, dass paarweise je ein Gesicht von Ihnen und von Jakob pro Sekunde zu sehen wäre. Um seine eigene Vorstellungskraft nicht zu überfordern, könnte man von einem Zufallsgenerator tausend Bilder auswählen lassen, um diese dann in Ruhe auf sich wirken zu lassen.

Wahrscheinlich würde Ihnen das Betrachten dieser Bilder mehr über das bisherige Lernen mit Jakob sagen können, als tagelanges Grübeln oder die Lektüre von einem Dutzend pädagogischer Ratgeber, denn alle zu einem Zeitpunkt X wirksamen Faktoren spiegeln sich am klarsten in den Gesichtern der Beteiligten wider. Wenn Ihnen die Gesichter sagen, dass in der Vergangenheit etwas faul war beim gemeinsamen Lernen, und wenn Sie daraufhin zielführende Korrekturen durchgeführt haben, dann werden diese auf den neuen Bildern zu sehen sein und Sie darin bestätigen, den neuen Kurs in puncto Hausaufgaben fortzusetzen.

Kein Bild und kein Gesicht ist mit einem anderen identisch. Selbst der
Gesichtsausdruck von ein und derselben Person verändert sich von
einem Augenblick zum anderen.

Sie können dieses Phänomen überprüfen, wenn Sie einige der Millionen
von Snapshots bewusst wahrnehmen, die während des gemeinsamen
Lernens mit Ihrem Kind von Ihnen Beiden geschossen werden könnten.

Würden Sie bei der Nachbetrachtung sich selbst und Ihrem Kind in die
Augen schauen, dann wüssten Sie, warum die jeweiligen Lernsessions
mehr oder weniger frustrierend oder aufbauend, bzw. unproduktiv oder
effizient waren.

Strahlen Sie mit Ihren Gesichtszügen und Ihrer Körperhaltung in diesem jetzigen Augenblick Zuversicht, Entspannung, Ruhe und Konzentration aus, dann stehen die Chancen gut, dass Sie bei der anstehenden Lernsession mit Ihrem Sohn viel erreichen können. Sollte er selber mies gelaunt und unmotiviert sein, wird es zum Wettstreit der gegensätzlichen Stimmungen und Haltungen kommen. Dabei wird der Kämpfer mit der größten Entschlossenheit und Beharrlichkeit gewinnen.

Fühlen Sie sich jetzt stark genug, das heutige gemeinsame Lernen so zu begleiten, dass am Ende alle Beteiligten mit dem Verlauf und den Ergebnissen der Hausaufgaben zumindest einigermaßen zufrieden sind, dann spricht nichts dagegen, jetzt bei Jakob anzuklopfen und mit dem Lernen zu beginnen. Sollten Sie aber in die Sitzung gehen mit der Erwartungshaltung, dass es heute wieder das übliche Spiel geben wird zwischen einem unmotivierten und unkonzentrierten Kind und einer Mutter, die verzweifelt und erfolglos zugleich versucht, eine effiziente Lernsession zu organisieren, dann wäre es besser, heute auf das gemeinsame Lernen zu verzichten.

Stattdessen wäre es sinnvoller, die Standardsituation gemeinsames Lernen von Eltern und Kind gründlich auf den Prüfstand zu stellen. Das Thema ist zu komplex, um es hier ausführlich zu behandeln. Bei dem Buchprojekt, an dem ich gerade arbeite, nimmt das entsprechende Kapitel breiten Raum ein und ermöglicht tiefe Einblicke in die systemischen Komponenten, die letztlich darüber entscheiden, welche Lernwiderstände aufgebaut und auf welche Weise sie abgebaut werden können. Es wird noch eine Weile dauern, bis das Buch fertig ist, doch Sie können schon heute damit beginnen, in Eigenregie die Weichen für ein verbessertes häusliches Lernen zu stellen, indem Sie das von mir beschriebene Szenario auf Ihre spezifische Situation anwenden. Da es in der Regel die Mütter sind, die ihre Kinder bei den Hausaufgaben betreuen, habe ich dieser Konstellation eine eigene Unterseite gewidmet mit dem Titel Mutter und Sohn.

Scannen Sie sich selbst ausführlich und tiefgründig auf allen drei oben angesprochenen Ebenen und machen Sie sich dazu stichpunktartige Notizen. Sobald Sie ausreichend Fortschritte bei dieser Form der Selbstbeobachtung gemacht haben, zeigen Sie Ihrem Kind, wie es sich selber scannen kann und geben Sie ihm ein kleines Notizbuch – Din A6 hat den Vorteil, dass es in die Hosentasche passt –, in das es die Gedanken/Vorstellungen, Gefühle und Körperempfindungen insbesondere vor während und nach dem gemeinsamen Lernen eintragen kann. Besonders wichtig ist, dass Sie Ihr Kind häufiger bitten, sich selbst bezüglich Ablenkung und Konzentration auf einer Skala von -3 bis +3 selbst einzuschätzen, damit es immer besser in der Lage ist, seine eigene Konzentrationsstärke auch dann realistisch einzuschätzen, wenn es allein arbeitet.

Unter den zehn Punkten zur Förderung der Konzentration beim Lernen finden Sie verschiedene konkrete Hinweise, wie Ihr Kind seine Fortschritte bei der Selbstwahrnehmung für eine bessere Selbststeuerung nutzen kann, zum Beispiel in Kapitel 6. a-c.

Haben Sie Geduld mit Ihrem Kind aber auch mit sich selbst, denn obwohl die Beobachtung an sich keine zusätzliche Zeit in Anspruch nimmt und das Notieren jeweils nur Sekunden dauert, müssen Sie mit einem massiven Anfangswiderstand gegen Selbstbeobachtungsübungen rechnen. Dieser hat vor allem damit zu tun, dass Kinder, mehr noch als Erwachsene, unangenehme Dinge gern verdrängen, und Selbstbeobachtung ist nun einmal der größte Feind der Verdrängung.

Machen Sie deshalb an dieser Stelle nicht den Fehler, vor dem der deutsche Philosoph Hegel gewarnt hat: „Die Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel.“
G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Ullstein, Frankfurt am Main u.a. 1970, S. 27

Der Aufbau eines guten Selbstbeobachtungssystems erfordert viel Zeit und Geduld. Doch die enormen Fortschritte, die man damit erreichen kann, beschränken sich nicht nur auf das Lernen, denn Selbstbeobachtung ist die Voraussetzung für Selbststeuerung und somit auch für Selbständigkeit. Wer sich selbst nicht steuern kann, wird von anderen gesteuert und schließlich von der Fremdsteuerung abhängig. In der Zeitschrift Die Zeit wird eine Studie zitiert, nach der zum Beispiel die Deutschnoten der Kinder, die bei den Hausaufgaben von ihren Eltern unterstützt wurden, sogar schlechter waren als die der selbständig arbeitenden Kinder.

Das kann Ihnen nicht passieren, wenn Sie bei den Hausaufgaben die Rolle eines einfühlsamen Dirigenten übernehmen. Dafür brauchen Sie keinen Taktstock. Mit freundlichen Augen und einer entspannten Stimme erreichen Sie bei Ihrem Kind viel mehr als durch Strenge und Fachwissen.

VI. Hausaufgaben: vom unselbständigen zum selbständigen Schüler

Besonders Kinder, die sich mit dem Lernen schwertun, obwohl sie über ein Potenzial verfügen, das gute schulische Leistungen ermöglichen könnte, machen irgendwann die Erfahrung, dass ihre Widerstände gegen bestimmte Lerninhalte und Lehrpersonen letztlich dazu führen, dass ihnen die Schule immer mehr auf die Pelle rückt, dass sie am Ende mehr Zeit für ihre Hausaufgaben aufbringen, als wenn sie ihre Energie statt in den Widerstand in die effiziente Erfüllung von unabwendbaren Anpassungsleistungen investiert hätten.

Sollten Sie, was durchaus wahrscheinlich ist, in Verbindung mit den Übungen zur Selbstbeobachtung feststellen, dass Ihr Kind oft stark abgelenkt ist, dann nehmen Sie diese Ablenkungen meinem persönlichen Motto entsprechend – „Ablenkungen sind Hinführung zu dem, was wir jetzt stärker wollen.“ – nicht zum Anlass von Kritik, sondern bitten Sie Ihr Kind lediglich, sich beim konzentrierten Lernen die Ablenkungsangebote stichpunktartig zu notieren, um sich ihnen nach dem Lernen ausgiebig hinzugeben, sofern es dann noch Lust dazu hat. Es ist völlig unmöglich, das Aufkommen von Ablenkungen gänzlich zu verhindern. Nach einer gewissen Zeit der Einübung werden Sie jedoch feststellen, dass Ablenkungen an Kraft verlieren, sobald sie die Schwelle vom Unbewussten zum Bewussten überschreiten. Ein Meister der Selbstbeobachtung, der indische Philosoph Krishnamurti, meint dazu:

„Du kannst dir nicht antrainieren, aufmerksam zu sein. Aber du kannst dir gewahr sein, wenn du unaufmerksam bist. Und wenn du dir gewahr bist, dass du unaufmerksam bist, dann bist du aufmerksam.“
Jiddu Krishnamurti, Freiheit und wahres Glück, Heyne, München 2007, S. 23

Wenn ich durch Selbstbeobachtung bemerke, dass ich abgelenkt bin, manövriere ich mich damit also automatisch wieder zurück in die Konzentration. Das schützt mich nicht davor, im nächsten Augenblick erneut abgelenkt zu sein. Es bietet mir aber die Möglichkeit, die Anzahl der Situationen zu vermehren, in denen ich mich für oder gegen das konzentrierte Arbeiten entscheiden kann. Ein Kind, dem das später durch beharrliche Selbstbeobachtung gelingt, wird sich am Anfang des Selbstbeobachtungstrainings bei den Hausaufgaben noch oft gegen die Konzentration und für die Ablenkung entscheiden.

Das ist der Punkt, wo viele Eltern verzweifeln und die Methode der Selbstbeobachtung grundsätzlich in Zweifel ziehen. Aus Erfahrung möchte ich Sie dazu ermutigen durchzuhalten, sich über kleinste Fortschritte zu freuen und sich immer wieder vor Augen zu halten, was die Alternative dazu wäre, nämlich ein Kind, das für lange Zeit oder gar lebenslang immer wieder von irgendwem angeschoben werden müsste, um etwas zu tun, was nicht durch unmittelbare Lust belohnt wird.

Gedankenfrequenz und Konzentrationsstärke

Verschiedene Hirnforscher schätzen die Anzahl von Gedanken, die uns täglich durch den Kopf gehen, auf 30 bis 60 Tausend.

Die meisten sind unbewusst oder überschreiten die Schwelle zum Bewusstsein nur flüchtig. Nichtsdestotrotz steckt in jedem Gedanken eine Impulskraft, die mit darüber entscheidet, was wir tun oder unterlassen. Wer nicht weiß, was in seinem Kopf, in seinem Körper und in seiner Seele vor sich geht, gleicht einem steuerlosen Schiff, dessen Kurs allein der Wind bestimmt.

Deshalb brauchen vor allem Kinder vom Bewusstseinstyp „Schmetterling“ eine gute Selbstbeobachtung, um nicht permanent mühsam von außen gesteuert werden zu müssen.

Aristoteles hat einmal gesagt, der Anfang sei die Hälfte vom Ganzen. Bezüglich der Selbstbeobachtung gilt das im doppelten Sinne. Zum einen haben Sie das Schlimmste hinter sich, wenn Sie die anfängliche Durststrecke mit den geringen Fortschritten überwunden haben. Zum anderen können Sie nach der erfolgreichen Durchführung des Selbstbeobachtungsprogramms Ihre Hände die meiste Zeit entspannt in den Schoß legen, denn mit jedem Akt der Selbstbeobachtung wird die Selbststeuerung gestärkt, da die Gelegenheiten zur Selbststeuerung sich kontinuierlich erhöhen. Davon profitiert neben den Hausaufgaben auch die Konzentration während  des Schulunterrichts.

Ist die Fähigkeit zur Selbststeuerung erst einmal gestärkt, dann ist damit bereits die wichtigste Voraussetzung zur Selbstorganisation und zu einem Leben gegeben, das in hohem Maße selbstbestimmt ist. Wem es gelungen ist, durch ebenso intensive wie entspannte Selbstbeobachtung seine Motivation und Konzentration zu steigern, der hat sich damit selbst die Grundlage für ein Leben geschaffen, in dem die Freiheit gegenüber der Fremdbestimmtheit überwiegt und in dem Misserfolge nur die Steigbügelhalter für neue Erfolge sind.

Ob ein Kind sich zu einem selbständigen oder unselbständigen Schüler entwickelt, entscheidet sich gewöhnlich bereits in der Grundschule. Wenn Eltern den Eindruck haben, dass ihr Kind in den ersten Schuljahren den Anschluss zu verlieren droht, wollen sie aus verständlichen Gründen nicht abwarten, bis der Zug für die Realschule oder das Gymnasium abgefahren ist. Sie tun, was andere Eltern nicht unterlassen. Sie helfen ihrem Kind bei den Hausaufgaben. Und wenn das an bestimmten Tagen nicht ausreicht, legen sie auch schon mal selber Hand an, damit es in der Schule kein Problem gibt, wegen nicht erledigter Hausaufgaben. Im kleinen Rahmen ist ein solches Verhalten üblich und wirkt sich nicht zwangsläufig schädlich auf das Selbständigwerden des Kindes aus.

Problematisch wird es jedoch, wenn der Anteil der elterlichen Hilfe kontinuierlich steigt und das Kind immer mehr davon abhängig wird. Dann wird ihm das selbständige Denken und Arbeiten systematisch abtrainiert. Das Gehirn traut sich immer weniger zu, Aufgaben selbständig lösen zu können und irgendwann ist es dazu kaum noch in der Lage, selbst wenn es sich darum bemüht. Mit den Jahren wird das Arbeitspensum immer größer und die fleißigen Eltern stöhnen unter der zunehmenden Last, bis sie sie nicht mehr tragen können. Oft wird dann versucht, Stofflücken durch Nachhilfe auszufüllen. Selbst wenn dies einigermaßen gut gelingt, bleibt das Kernproblem bestehen: der unselbständige Schüler.

Wird das Problem nicht irgendwann an der Wurzel gepackt, wird aus dem unselbständigen Schüler schließlich der unselbständige Erwachsene, der nur für Tätigkeiten geeignet ist, bei denen andere – wie damals in der Schule – ihm sagen, was er tun soll. Das alles ließe sich vermeiden, wenn Eltern der Versuchung widerstehen könnten, ihrem Kind zu schnell und zu viel bei den Hausaufgaben zu helfen, wenn sie es hinnehmen, dass ihr Kind die Arbeiten nicht immer vollständig erledigt, dafür jedoch selbständig. Entscheidend sollte nicht sein, wie viele Aufgaben das Kind schafft, sondern die Dinge, die es nach deren Erledigung mehr oder besser kann als vorher. Begleitend sollte dem Kind schon früh die Fähigkeit vermittelt werden, sich selbst immer besser beobachten zu können, um sich kontinuierlich verbessern zu können, bei allem, was es tut.

Der von mir ausführlich beschriebene Weg von der Selbstbeobachtung über die Selbststeuerung zur Selbstorganisation ist keineswegs zeitintensiv, doch er erfordert genaue Kenntnisse über die Impulsstrukturen und mentalen Innenwelten Ihres Kindes, und zwar sowohl von dem Kind selbst als auch von der Person, die es betreut und unabhängig davon, ob es die Grundschule besucht oder als „erwachsenes Kind“ bereits mit dem Studium beschäftigt ist.

Im Laufe der Zeit werden Sie dabei immer weniger Energie verbrauchen und immer mehr neue Energie gewinnen. Sie werden feststellen, dass der größte Energiegewinn daraus resultiert, dass Sie sich auf diesem Weg immer wieder neue Energiequellen erschließen und immer wieder neue Energielecks orten und abdichten können. Das gilt insbesondere für Situationen, in denen Sie mit anderen kommunizieren.