1. Die Jungen-Katastrophe

In seinem Buch Die Jungen-Katastrophe verweist der Pädagoge Frank Beuster auf ein Phänomen, das vielen Eltern aus eigener Erfahrung bekannt sein dürfte. Spätestens seit den 90-er Jahren zeichnet sich ein Trend ab, der bis heute ungebrochen ist: Rund um das Thema Schule tun sich Jungen schwerer als Mädchen und bringen im Durchschnitt signifikant schlechtere Schulnoten nach Hause.

Nach Einschätzung des Autors gibt es dafür eine Reihe verschiedener Ursachen, von denen ich hier eine herausgreife, die mir besonders bedeutsam erscheint. Einige der Punkte, die ich ansprechen werde, treffen zwar auch auf die Kombinationen Mutter-Tochter, Vater-Sohn und Vater-Tochter zu. Doch da die Mutter-Sohn-Beziehung in der Praxis eine zentrale Rolle spielt, konzentriere ich mich hier auf dieses Thema.

Der Inhalt des Buches basiert sowohl auf den Erfahrungen mit seinen eigenen Kindern, als auch auf den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen. Beuster stellt darin fest, dass die Durchschnittsnoten der Mädchen bundesweit besser sind als die der Jungen und sieht die Hauptursache dafür in den seiner Einschätzung nach mehr auf die Lebenswelt der Mädchen zugeschnittenen Unterrichtsstrukturen im heutigen Schulsystem. In einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2016 werden weitere Ursachen aufgeführt und die geschlechtsspezifischen Unterschiede statistisch belegt. Da diese sich so schnell nicht ändern dürften, empfiehlt der Autor, an die Adresse von Eltern schulpflichtiger Jungen gerichtet:

„Wenn Jungen nicht von Anfang an lernen, ihre Lernprozesse besser zu steuern, wenn sie sich nicht die Fähigkeit aneignen, selbst Wissen zu erwerben und selbständig arbeiten zu können, dann haben sie kaum eine ernsthafte Chance gegen die gut vorbereitete Konkurrenz der Mädchen.“
Frank Beuster, Die Jungenkatastrophe, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 66

Hat er es in der Schule heutzutage wirklich schwerer als
seine Schwester, wie der Pädagoge Frank Beuster meint?

Gut zwei Drittel der Schüler, die ich betreue, sind Jungen. Dabei spielen Mütter in mehrfacher Hinsicht die Hauptrolle. Zum einen sind sie es, die mich in über 80 Prozent der Fälle kontaktieren, und wenn zu einem Erstgespräch nur ein Elternteil erscheint, ist es fast immer die Mutter. Zum anderen sind es meist die Mütter, die sich hauptverantwortlich um die Erziehung und insbesondere um die schulischen Belange ihrer Söhne kümmern.

Dies reicht von der Hausaufgabenbetreuung über die Teilnahme an Elternsprechtagen bis hin zur Organisation von Nachhilfe und sonstigen außerschulischen Hilfsangeboten. Und gewöhnlich sind es ebenfalls die Mütter, die sich die größten Sorgen machen, wenn es bei Ihren Söhnen in der Schule irgendwann nicht mehr rund läuft.

2. Wenn Mütter sich zu viel kümmern und sorgen

Mir ist noch nie eine Mutter begegnet, die ihrem Sohn nicht alles Gute dieser Welt gewünscht hätte. Doch dieses Gutmeinen ist nicht selten der Anfang einer langen Kette von Problemen, deren Anfang bis in die Zeit vor der Geburt des Kindes zurückreicht. Welche Mutter freut sich nicht auf ihr Kind, in der Erwartung, dass es ein glückliches und erfolgreiches Leben haben wird, verbunden mit der Bereitschaft, alles menschenmögliche dafür zu tun? Dies ist ebenso natürlich wie gut, doch birgt es vor allem zwei Gefahren in sich, die später zu Stolpersteinen werden können.

Zunächst besteht das Risiko, sein eigenes Kind mit Positivprojektionen zu überhäufen. Während die Freude über die ersten eigenständigen Schritte und die ersten fröhlich nachgeplapperten Wörter noch völlig unproblematisch ist, beginnen die Probleme meist in dem Augenblick, wenn das eigene Kind mit anderen verglichen wird. Dabei spielt es keine besondere Rolle, ob es in den ersten Lebensjahren anderen Kindern voraus ist, hinterherhinkt oder sich im Durchschnittsbereich bewegt. Entscheidend ist vor allem, welche Bedeutung die Mutter der „Performance“ ihres Kindes beimisst.

In allen drei Fällen kann sie in Versuchung kommen, sich noch mehr um ihr Kind zu kümmern: weil sie den Vorsprung behalten oder ausbauen möchte, weil sie einen Vorsprung herausarbeiten will oder einen Rückstand aufholen möchte. Dabei ist ihr nicht unbedingt bewusst, dass ein Kind auch verkümmern und Kummer bereiten kann, wenn man sich zu viel um es kümmert. Der verständliche Wunsch, seinen Kindern so viel wie möglich von dem zu vermitteln, was man sich selbst erarbeitet hat, kann fatale Folgen nach sich ziehen, wenn es zu viel des Guten ist. In meiner Praxis begegne ich häufig Schülern, die in dieser Hinsicht überfürsorglich behandelt werden.

Mehr noch als Jugendliche wollen Kleinkinder die Welt entdecken und nicht erklärt bekommen. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich meinem Kind diesen Spiel-Raum einräume, oder ob ich in noch so guter Absicht zu früh und zu oft in seine Auseinandersetzung mit der Welt eingreife. Ich benutze in diesem Zusammenhang gern das Bild von einem Magnetismus, der bereits in jungen Jahren darüber entscheidet, ob jemand später eine solide Eigenmotivation, Selbstorganisation und Konzentrationsfähigkeit entwickelt, oder nicht.

Sucht das Kind die Lösung für irgendein alltägliches Problem, dann kann man als Erwachsener auf verschiedene Weise damit umgehen. Man kann seine Unterstützung selbst dann verweigern, wenn es darum bittet; man kann sie gewähren, sobald es sie einfordert, und man kann eingreifen, bevor es das Bedürfnis nach Hilfe signalisiert. In konsequenter Anwendung würde ersteres Vernachlässigung und letzteres Überfürsorglichkeit bedeuten.

Stellt man sich Mutter und Kind als zwei Magnete vor, die ihr eigenes Leben organisieren, so wie in der Physik Magnetfelder Eisenstaub in eine spezifische Organisationsform bringen, dann kann man davon ausgehen, dass das Magnetfeld der Mutter zunächst das stärkere ist. Säuglinge und Kleinkinder sind physisch wie emotional davon abhängig. Sie könnten nicht überleben, wenn sich das Magnetfeld ihrer Mutter von ihnen abwenden würde. Deshalb sind ihre Antennen von Anfang an auf diesen existenziellen Magnetismus ausgerichtet. Auch die Mutter spürt, welche Wirkung ihre physische und liebevolle Zuwendung auf das Kind ausübt, in dessen Augen sich ihre eigene Liebe spiegelt wie der Mond das Sonnenlicht.

In den ersten Lebensjahren basiert diese wundervolle Spiegelung wesentlich auf der Bedürftigkeit und Abhängigkeit des Kindes. Je selbständiger es wird, desto mehr beginnt sich eine zweite Seele in der Mutterbrust zu regen. Es ist die Angst, dass die tragende Säule der Mutter-Kind-Liebe zu bröckeln beginnen könnte. So setzt auf meist unbewusster Ebene ein Ringen ein zwischen der Freude über die Entwicklung des Kindes zu immer mehr Selbständigkeit und der Angst, auf eben diese Weise dessen Nähe verlieren zu können. Daraus resultiert eine gewisse Neigung, den eigenen Magnetismus auch dort auf das Kind wirken zu lassen, wo er verhindert, dass es ein autonomes Kraftfeld aufbauen kann.

Wird einem Kind bei der Lösung seiner alltäglichen Aufgaben zu früh und zu viel geholfen, dann verliert es sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, selbständig zu denken und zu handeln. Wenn Schwierigkeiten auftauchen, hält es Ausschau nach dem magischen Magneten, der alles schneller und besser kann als es selbst. Im Kindergarten, in der Grundschule und vor allem auf der weiterführenden Schule macht es dann die Erfahrung, dass die mütterlichen Hilfsangebote in entscheidenden Situationen nicht mehr zur Verfügung stehen.

Insbesondere bei Leistungsüberprüfungen der verschiedensten Art ist es ganz auf sich allein gestellt und scheitert, weil die Kräfte des eigenen inneren Magneten zu schwach und die mütterlichen Hilfskräfte zu weit entfernt sind. Wenn Sie es mit Sorgen und Sorgfalt nicht übertreiben, profitieren Sie persönlich von einem „Kollateralnutzen“ der besonderen Art, sofern ein Körnchen Wahrheit in dem Spruch stecken sollte: „Wer zu viel Sorgfalt gern lässt walten, bekommt am Ende Sorgenfalten.“

3. Die verflixte fünfte Klasse – Eine Herausforderung für Mutter und Sohn

Bei den meisten Söhnen tauchen die ersten größeren Schulprobleme nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule auf. Das liegt daran, dass die mütterliche Suggestivkraft in der Grundschule oft noch systemstabilisierend wirkt. Solange dem Kind überwiegend reproduktive und relativ einfache Leistungen abverlangt werden, können ihm die mütterlichen „Kraftanleihen“ gute Renditen bringen, aus denen es seinen Konkurrenten gegenüber eine Zeitlang Vorteile erwirtschaften kann.

Oft entwickeln diese Jungen während der Grundschulzeit ein starkes Selbstbewusstsein, das es ihnen – auch durch die tatkräftige Unterstützung ihrer Mütter –  ermöglicht, ohne besondere Anstrengung überdurchschnittliche Leistungen zu erzielen. Der mit relativ geringem Aufwand erzielte Erfolg befreit sie von Ängsten, stärkt ihre Intuition und gibt ihnen das Gefühl, die schulischen Anforderungen mit Leichtigkeit erfüllen zu können.

Schüler dieses Typs wechseln in der Regel von der Grundschule auf ein Gymnasium, wo sie dann völlig unvorbereitet eine grundlegend veränderte Situation vorfinden:

  • Sie verlieren den Kontakt zu guten Freunden
  • Statt auf eine zentrale Lehrkraft müssen sie sich auf viele unterschiedliche Lehrertypen einstellen.
  • Das Schulgebäude ist größer und anonymer.
  • Am Ende der Grundschule waren sie die Größten von wenigen, jetzt sind sie die Kleinsten von vielen Schülern.
  • Der meist längere Schulweg sowie mehr Unterrichtstunden und Hausaufgaben bedeuten, dass sie viel mehr Zeit für schulische Angelegenheiten aufbringen müssen.

Zwar treffen diese Punkte mehr oder weniger auf alle Schüler zu, doch spielt das Mutter-Sohn-Verhältnis eine entscheidende Rolle dabei, wie das einzelne Kind mit den veränderten Rahmenbedingungen zurechtkommt. Es mag paradox klingen, doch nach meinen Erfahrungen tun sich oft die Schüler auf dem Gymnasium am schwersten, die seit der Grundschule von ihren Müttern am intensivsten bei den Hausaufgaben und der Vorbereitung auf Klassenarbeiten betreut wurden.

Kaum jemand wird bezweifeln, dass übertriebene Fremdhilfe die Fähigkeit zur Selbsthilfe negativ beeinträchtigt. Doch ist es für Mütter nicht einfach zu realisieren, wann die kritische Grenze überschritten ist, zumal dies weniger von der Quantität als von der Qualität der Betreuung abhängt. Mit letzterem meine ich nicht die fachliche Qualifikation, sondern das Maß, in dem es der Mutter gelingt, die beim Lernen mit ihrem Sohn auftretenden Widerstände, das heißt die wirklichen Ursachen für seine Konzentrationsschwäche, zu erkennen und zu beseitigen oder wenigstens zu verringern.

Auf das wohl häufigste Problem beim Wechsel von der Grundschule auf eine weiterführende Schule haben die Mütter in der Regel zunächst nur wenig Einfluss. Betroffen davon sind hauptsächlich Schüler mit einer weit überdurchschnittlichen Intelligenz und Intuition. Für sie ist die Grundschule ein Spaziergang, auf dem sie gute Noten einsammeln, ohne sich dafür besonders anstrengen zu müssen.

Wenn sie dann auf einer weiterführenden Schule höheren Anforderungen und einer stärkeren Konkurrenz gegenüber stehen, sind sie meist nicht in der Lage, sich kurzfristig auf die veränderten Umstände einzustellen. Sie klammern sich an die Vorstellung, dass man in der Schule gut sein kann, ohne arbeiten zu müssen. Schreiben sie dann plötzlich die ersten schlechten Arbeiten, verstehen sie die Welt nicht mehr.

Sie haben zu Recht den Eindruck, dass sich bei ihnen nichts geändert hat, und dass sie dennoch viel schlechter bewertet werden als zuvor. Selbst wenn sie irgendwann einsehen, dass sie selber etwas ändern müssten, schaffen sie es oft nicht, den Hebel einfach umzulegen. Und selbst wenn ihnen dies gelingt, ist das noch keine Garantie für Erfolg, denn in der Regel wird der vermehrte Einsatz durch inzwischen automatisierte Selbstzweifel negativ kompensiert, sodass die Noten trotz gesteigerter Bemühungen einfach nicht besser werden wollen. Dann kann es passieren, dass selbst ein besonders intelligenter und kreativer Schüler immer schlechtere Noten bekommt und irgendwann resigniert.

Wenn ihm dann auch noch die Eltern in den Rücken fallen und ihm das Gefühl geben, ein fauler Versager zu sein, kann für den Schüler die Welt vollkommen zusammenbrechen. Mehr denn je braucht er jetzt eine Mutter, die seine Situation versteht und ihn dabei unterstützt, die Krise zu überwinden. Zwar tun sich auch manche Mädchen nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule schwer. Wenn sie plötzlich mit schlechteren Noten konfrontiert werden, als sie es von der Grundschule gewohnt waren, sind sie ähnlich häufig von Lernblockaden und Prüfungsblockaden betroffen wie die Jungen. Doch die meisten von ihnen resignieren nicht so schnell wie ihre Klassenkameraden, vermehren stattdessen ihre Anstrengungen und schaffen es häufiger, sich aus der Krise des verflixten fünften Schuljahrs buchstäblich herauszuarbeiten.

Ein oft unterschätzter Grund dafür, warum viele Kinder Startprobleme auf den weiterführenden Schulen haben, besteht darin, dass sie nach dem Wechsel auf ein wesentlich größeres Schulgebäude treffen, mit viel mehr Schülern und Lehrern.

4. Mutter und Sohn lernen gemeinsam – Drei „natürliche“ Widerstände

Es gibt drei Widerstände allgemeiner Natur, die sich nicht beseitigen lassen, die man jedoch abmildern kann, wenn man sich ihrer bewusst ist und angemessen mit ihnen umgeht. Der erste besteht darin, dass den meisten Schülern spätestens auf der weiterführenden Schule die Schule irgendwann zu viel wird. Das hat zunächst nichts mit mangelnder Motivation zu tun, sondern einfach damit, dass die Schüler das Verhältnis von Freizeit und „Schulzeit“ als unangemessen empfinden. Mit Schulzeit meine ich hier den Schulunterricht, Hausaufgaben, Vorbereitung auf Klassenarbeiten, Aufarbeitung von Stofflücken aber auch jede Situation, in der die Schule zum Thema wird.

Letzteres ist für Schüler ein größeres Problem als manche Eltern glauben. Jede verbale Erinnerung an zu erledigende Aufgaben, aber auch jede nonverbale Geste, die signalisiert, „du könntest jetzt dies oder das für die Schule tun“, wird von den meisten Schülern so empfunden, als hätte man einen „Pflichtkorridor“ durch ihre „Freizeitlandschaft“ gezogen. Dies kann dazu führen, dass ihnen ihre effektive Freizeit subjektiv viel kürzer erscheint, als sie tatsächlich ist, und dass sich daraus ein mehr oder weniger bewusster Widerstand gegen alles aufbaut, was nach Schule riecht.

Der zweite Widerstand hängt damit zusammen, dass Kinder das Haus, in dem sie aufgewachsen sind, als freien Lustraum wahrzunehmen gewohnt sind. Die Schule ist dagegen für sie ein Zeit-Raum, in dem sie überwiegend mit Pflichten konfrontiert werden. Während für die meisten Erwachsenen in beruflicher Hinsicht Redaktionsschluss ist, wenn sie von der Arbeit kommen, müssen Schüler sich nach Schulende irgendwann noch einmal zu zusätzlichen Arbeiten aufraffen. Dann tun sich besonders die Schüler mit durchschnittlichen oder schlechten Schulnoten schwer, weil sie das Gefühl haben, dass das, was sie tun, in den Augen von Lehrern und Eltern immer zu wenig ist, unabhängig davon, wie viel Aufwand sie betreiben.

Die häusliche „Lustburg“ verwandelt sich in ihren Augen nicht selten in eine Festung, in der sie eine lange Haftstrafe absitzen müssen. Unter diesen Rahmenbedingungen arbeiten sie oft unmotiviert und unkonzentriert. Ihr Widerstand gegen das Lernen kann so massiv werden, dass sie mehr Energie in den Widerstand stecken als in dessen Überwindung, mit der Konsequenz, dass die Lernzeiten immer länger und ineffizienter werden, oder dass sie sich alles Mögliche einfallen lassen, um dem Lerndruck zu entkommen.

Wenn Mütter mit ihren Söhnen lernen wollen, lauert im Hintergrund ein dritter Widerstand, der so massiv werden kann, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind auf eine ernsthafte Belastungsprobe gestellt wird. Je weniger Anerkennung ein Schüler aus seinen schulischen Leistungen beziehen kann, desto wichtiger wird es für ihn, sich auf eine „Hausmacht“ verlassen zu können, für die das, was er leistet, weniger bedeutend ist, als das, was er ist.

Es spricht nichts dagegen, dass Mütter ihrem Sohn bei den Hausaufgaben helfen, solange er das wünscht und solange dem Thema Schule keine übermächtige Bedeutung beigemessen wird. Sobald aber der Sohn das Gefühl hat, dass das Mutter-Kind-Verhältnis wesentlich durch dieses Thema geprägt wird, wird er sich von seiner Mutter verlassen fühlen. Er wird sie als Trojanisches Pferd wahrnehmen, das die Schule in sein heimisches Territorium eingeschleust hat. Wenn er mit seiner Mutter lernt, hat er bewusst oder unbewusst das Gefühl, einer feindlichen Macht gegenüberzusitzen, mit der Konsequenz, dass er sich mehr auf das Kämpfen als auf das Lernen konzentriert.

Mutter und Sohn lernen gemeinsam in vier Akten

1. Akt

Beide sind entspannt und gut gelaunt. Die Konzentration des Sohnes ist im grünen Bereich. Lerntempo und Qualität der Ergebnisse sind in Ordnung. Das riecht heute nach einer richtig guten Lernsession …

 2. Akt

… bis Finn etwas am Laptop recherchieren möchte und sich dabei mit jedem Klick weiter von der zu erledigenden Aufgabe entfernt. Gestik und Mimik von Mutter und Sohn wechseln in den Kampfmodus: Same procedure as every afternoon session?

3. Akt

… Mami ist genervt. Der Sohn signalisiert ihr mit seinem Blick, dass die Botschaft bei ihm angekommen ist, aber auch, dass er nicht wirklich versteht, warum sie sich so tierisch aufregt.

Lerntechnisch ist er ihr gerade durch die Lappen gegangen, doch er scheint zu wissen, dass dies bei der Jagd nur den schlauen Tieren gelingt. Und deshalb hat er kein Schuldbewusstsein.

 4. Akt

 Was ist denn nun passiert? Früher hätte eine solche Szene dazu führen können, dass bei der Kommunikation zwischen Mutter und Sohn für den Rest des Tages die Molltöne dominiert hätten.

Doch inzwischen haben sie einen Weg gefunden, wie beide beim gemeinsamen Lernen auf ihre Kosten kommen. Der Deal lautet: Finn darf sich hin und wieder kleine Auszeiten nehmen. Seine Gegenleistung besteht darin, dass er beim häuslichen Lernen im Durchschnitt die Ergebnisse liefert, die seine Eltern von ihm erwarten.

Sofern es ihm nicht gelingt – wie Finn im obigen Beispiel – sein Territorium gegenüber der Mutter zu verteidigen, wird er sich im Laufe der Zeit eine Ritterrüstung bauen, die ihm einen sicheren Schutz vor feindlichen Angriffen bietet. Er wird es genießen zu sehen, wie seine Mutter sich daran vergeblich die Zähne ausbeißt. Wenn diese dann immer öfter die Nerven verliert und sich ihrerseits auf das Spiel gegenseitiger Anfeindungen einlässt, hat er eine entscheidende Schlacht gewonnen.

Er hat den Angriff eines Trojaners durch eine wirksame Firewall erfolgreich abgewendet. Zwar leidet auch er unter den täglichen Anfeindungen, doch dieser negative Preis wird ihm durch zwei positive Errungenschaften versüßt: Zum einen hat er eine feindliche Übernahme abgewendet, und zum anderen hat er seine Mutter vor die Entscheidung gestellt, ihn wegen seiner suboptimalen schulischen Anstrengungen und Leistungen abzulehnen oder ihn trotz allem zu lieben.

In den meisten Fällen lässt sich die Mutter schließlich ihren Liebesbeweis in subtiler Form abtrotzen, denn auch sie braucht für die nervigen Anfeindungen eine Kompensation. Es kommt zu Versöhnungen mit dem eigenen Sohn, sei es, dass er selbst Streicheleinheiten einfordert oder seine Mutter sie ihm freiwillig gewährt. Selbst wenn sie gelegentlich der Versuchung nicht widerstehen kann, ihren Sohn in der ein oder anderen Form wegen seines Widerstandes und seinem unkonzentrierten Arbeiten zu bestrafen, wird an anderer Stelle um so mächtiger der Mutterinstinkt siegen, ihrem Sohn zu zeigen, wie sehr sie ihn liebt.

Dieses teuflische Spiel kann erst dann ein Ende nehmen, wenn die Mutter es durchschaut und geeignetere Mittel findet, um ihrem natürlichen Bedürfnis nach einer hilfreichen Förderung ihres Sohnes Ausdruck zu verleihen. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, die Lernwiderstände des Sohnes auf- und abzuarbeiten, unabhängig davon, ob dies in Eigenregie oder durch die Unterstützung Dritter gelingt.

5. Innenwelten eines Schülers bei seinen Hausaufgaben mit der Mutter

Ein Fallbeispiel: Bei zwei Kindern lief alles rund, doch dann macht Julian plötzlich Probleme …

Neben diesen drei Hauptwiderständen gibt es zahlreiche spezifische Widerstände, die von der individuellen Situation der an der innerfamiliären Lernförderung Beteiligten abhängen. Ich möchte mich hier auf ein Beispiel beschränken, in dem einige typische Widerstände vorkommen.

Eine Mutter hat sich nach der Geburt ihres dritten Kindes dazu entschlossen, ihren Beruf aufzugeben, um ganz für die Familie da sein zu können. Zu dem Zeitpunkt, als sie zum ersten Mal mit ernsthaften schulischen Problemen eines ihrer Kinder konfrontiert wird, hat die Tochter gerade ihr Studium aufgenommen und ihr ältester Sohn die Oberstufe eines Gymnasiums erreicht. Ihr Jüngster, der zwölfjährige Julian, geht auf dieselbe Schule und ist gerade in die sechste Klasse gewechselt. Zwar hatte er auf seinem letzten Zeugnis keine Fünf, doch jeweils zweimal die Note „Ausreichend“ in Haupt- und Nebenfächern.

Während sie den beiden älteren Kindern nur sporadisch bei den Hausaufgaben geholfen hatte, erwies sich die Arbeit mit Julian als eine große und langwierige Herausforderung. Anfangs hatte der Junge die mütterliche Hilfe dankbar angenommen und war froh darüber, dass sich seine Noten langsam aber stetig verbesserten. Doch ausgerechnet im letzten Halbjahr vor dem Ende der Erprobungsstufe verschlechterten sie sich plötzlich und dramatisch.

Die Mutter stand vor einem Rätsel, da ihr Sohn unverändert motiviert schien und es bei der Vorbereitung auf Klassenarbeiten keine Anzeichen dafür gab, dass er den Stoff nicht beherrschte. Auch war Julian nach den Arbeiten stets guter Dinge und rechnete mit entsprechenden Ergebnissen. Doch eine ungewöhnliche Häufung von Flüchtigkeitsfehlern drückte die Bewertungen im Schnitt um ein bis zwei Noten nach unten. Nur weil er sich am Anfang des Schulhalbjahres ein Polster erarbeitet hatte, überstand Julian die Erprobungsstufe hauchdünn. Als sich der Negativtrend zu Beginn der siebten Klasse fortsetzte, kontaktierte mich seine Mutter wegen des Verdachts auf Konzentrationsprobleme.

Ein kurzer Check ergab, dass der Junge sich ausgezeichnet konzentrieren konnte. Erst bei der Simulation einer schwierigen Prüfungssituation traten plötzliche Denkblockaden auf, in deren Folge sich seine Leistungsfähigkeit rapide und nachhaltig verschlechterte. Dieses Ergebnis war eine erste Erklärung dafür, warum sich die Flüchtigkeitsfehler in seinen Arbeiten besonders am Ende häuften. Es fehlte aber noch jede Erklärung für das plötzliche Auftreten der Denkblockaden, die inzwischen den Charakter von klassischen Blackouts angenommen hatten. Eine diesbezügliche Befragung von Mutter und Sohn blieb ohne Ergebnis.

Wenn bestimmte Programme den Arbeitsspeicher eines Computers besonders stark beanspruchen, spricht man von einer hohen CPU-Auslastung, von engl.: central processing unit. Im Extremfall kann ein einziger Vorgang den Arbeitsspeicher so belasten, dass der PC abstürzt, es also quasi zu einem Computer-Blackout kommt. Das menschliche Gehirn funktioniert ähnlich. Wenn es durch einzelne zentrale Prozesseinheiten – wie zum Beispiel Versagensängste oder hochenergetische Tagträume – zu stark belastet wird, kann dies zu Denkblockaden führen, die das konzentrierte Lernen erschweren und in Prüfungssituationen  Blackouts verursachen können. Ängste, existenzielle Zweifel und starke, unbefriedigte Bedürfnisse sind generell die gefährlichsten Auslöser für psychosomatische Prozesse, die Teile des Gehirns lahmlegen können.

Bei gemeinsamen Reisen durch Julians Innenwelten kristallisierten sich drei Themen heraus, die dem Jungen unentwegt durch den Kopf gingen und ihn emotional stark belasteten. Auf einer Skala von minus zehn bis plus zehn konnte er einschätzen, wie sich die einzelnen Punkte für ihn anfühlten. Mit minus neun bewertete er eine körperliche Demütigung, die ein gleichaltriger Schüler drei Monate zuvor an ihm verübt hatte. Tage, an denen Freunde bei ihm übernachten durften, stufte er mit plus zehn ein. Dafür, dass er seine Mutter traurig mache, gab er den Wert minus sieben an.

Wie sich bei der Arbeit mit Julian herausstellte, war es in den letzten Monaten zu einer fatalen Überlagerung der drei Themen gekommen. Die Demütigung hatte er seiner Mutter verschwiegen, weil er sich dafür schämte und weil er sie nicht noch zusätzlich belasten wollte. Bei einer Übung, in der er die Gesichter seiner Mutter in verschiedenen Szenen vor seinem geistigen Auge Revue passieren lassen sollte, war herausgekommen, dass sie immer fröhlich aussah, wenn sie mit seinen Geschwistern zusammen war und dass ihr Gesichtsausdruck meist traurig und besorgt war, wenn sie ihn anschaute. In ihrer Verzweiflung hatte die Mutter dann auch noch die Übernachtungen mit Freunden vorübergehend verboten und die Computernutzung ihres Sohnes eingeschränkt. Sie hatte sich davon erhofft, dass Julian sich besser würde konzentrieren können, wenn er weniger Ablenkungen ausgesetzt wäre.

Dass dieser Schuss jedoch nach hinten losging, hing damit zusammen, dass Julians Fazit der letzten Monate so lautete: Ich bin nichts wert, und alles, was mir Spaß macht, wird mir verboten. Äußerlich schien seine schulische Motivation darunter nicht gelitten zu haben, denn er verbrachte genau so viel Zeit mit Hausaufgaben und der Vorbereitung auf Klassenarbeiten wie vorher. Innerlich hatten sich jedoch starke Widerstände aufgebaut, die dazu führten, dass das Gelernte nur eingeschränkt in seinem Langzeitgedächtnis abgespeichert wurde und deshalb bei Klassenarbeiten nur begrenzt abrufbar war. Sobald er dies bei Prüfungen registrierte, bauten sich Denkblockaden auf, die seine Konzentration und Leistungsfähigkeit zusätzlich verringerten. Dieser Mechanismus war ihm wegen der Anspannung bei Klassenarbeiten kaum bewusst, sodass er regelmäßig mit schlechteren Resultaten konfrontiert wurde, als er erwartet hatte.

Auch der Mutter war zunächst nicht bewusst, dass sie mit ihren Sorgen ihrem Sohn nicht nur nicht hilft, sondern sogar schadet. Mein passender Spruch dazu lautet:
Wer sich Sorgen macht, gibt seinen Sorgen Macht.
Andreas Tenzer in: Sigrid Engelbrecht, Lass los, was Dir Sorgen macht, Gräfe und Unzer, München 2013, S. 11.

Nachdem ihr klar geworden war, dass Julian sich in einem Lustloch befand, das sich nicht durch Lustentzug füllen lässt, dass er sich bereits genug eigene Sorgen machte und diesbezüglich alles andere als eine zusätzliche externe Sorgenfabrik gebrauchen konnte, änderte sie den Umgang mit ihrem Sohn besonders an einer zentralen Stelle. Sie praktizierte eine Kombination aus Loslassen und neuer Zuwendung. Die täglichen gemeinsamen Lerneinheiten wurden ausgesetzt und die Verbote aufgehoben. Julian versprach im Gegenzug, sich an sie zu wenden, wenn er ihre Hilfe gebrauchen konnte, sowie die Unterstützung Dritter in Anspruch zu nehmen, um die aufgestauten Probleme zu lösen.

Mehr noch als die äußeren Veränderungen war die Bereitschaft der Mutter von Bedeutung, innerlich loszulassen. Bei unseren Gesprächen war ihr bewusst geworden, dass das Klammern an ihren Sohn auch etwas mit ihrer eigenen Lebenssituation zu tun hatte. Solange Julian ihre Zeit extensiv in Anspruch nahm, konnte sie die Entscheidung, wieder in ihren alten Beruf einzusteigen, vertagen. Das kam ihr aufgrund der Unentschlossenheit in dieser Frage sehr entgegen …

Sehr frei nach Goethe …

Aus Ketten befreit sind Geist und Seele
durch der Mutter fröhlich belebenden Blick.
Im Kinde grünet Hoffnungsglück.

Es gibt keine auf Dauer funktionierende Alternative zu einer Kombination aus Loslassen, Ermutigen und fördern. Man muss sich nur vor Augen halten, was das Gegenteil davon bedeutet: Festhalten und das Scheitern provozieren durch dessen Prophezeiung. Viele Eltern wissen das im Prinzip, so wie in unserem Beispiel die Mutter von Julian. Oft verhalten sie sich jedoch in konträrer Weise.

Einen möglichen Grund dafür habe ich oben bereits angedeutet. So nervig es sein kann, ein schulisches Problemkind zu haben, so befreiend kann dies andererseits sein in Bezug auf eigene Problem der Eltern. Ein Kind mit existenziellen Problemen ist der beste Garant für beide Elternteile, nicht selber ein familiärer Problemfall zu werden. Die Sorgen, die man sich um das Kind macht, muss man sich nicht mehr um sich selber machen. Der potenzielle eigene Patientenstatus wird auf das Sorgenkind übertragen. Dass dies mit den besten Absichten für das Kind geschieht, steht dazu nicht im Widerspruch, da die Übertragung in der Regel unbewusst erfolgt

Der renommierte Schweizer Psychologe und Buchautor, Peter Schellenbaum, hat dieses Phänomen in einer wehtuend entlarvenden Weise beschrieben:

„Eltern, denen es gelungen ist, ihre Kinder zu zerbrechen, behandeln diese wie arme Patienten.“

Peter Schellenbaum, Die Wunde der Ungeliebten, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 17. Auflage 2009, S. 61

Die Mutter von Julian war lange den Kurs des Zerbrechens gefahren, bis sie merkte, dass sie sich in einer Sackgasse befand und schließlich umkehrte.

Ein zweiter Grund, der für das Abbiegen in eine Sackgasse mitverantwortlich sein könnte, hat mit zwei Teilpersönlichkeiten zu tun, die bei Müttern, vor allem von pubertierenden Söhnen, für Verwirrung sorgen können. Das Erwachsenwerden des Kindes löst manchmal unbewusste Trennungsängste aus. Die liebend klammernde Mutter möchte ihr Kind niemals verlieren. Deshalb soll es so lange wie möglich von der Mutter abhängig sein. Solange der Sohn darauf angewiesen ist, dass die Mutter sich um ihn und für ihn sorgt, braucht sie sich um dessen Verlust keine Sorgen zu machen.

Zwar gibt es auch auch eine starke Teilpersönlichkeit in der Mutter, die ihren Sohn unbeschwert strahlen sehen möchte, doch wenn diese schwächer ist als die erste, wird sie das Selbständig-Werden des Kindes unbewusst zu sabotieren versuchen, so sehr sie auch davon überzeugt ist, das Gegenteil zu wollen.

Es gibt noch einen dritten Grund, der Julians Mutter in Bezug auf ihren Sohn in eine Sackgasse getrieben hatte:

 

Dabei geht es nicht um ein spezifisches Mutter-Sohn-Thema, sondern um eine Problematik, die bei der Kommunikation von genereller Bedeutung ist, insbesondere bei Erziehungsfragen.

Ich meine das psychologische Gesetz von der das Gegenteil bewirkenden Anstrengung.

Wenn Eltern davon ausgehen, dass die schulischen Probleme ihres Kindes überwiegend damit zu tun haben, dass es sich nicht genug anstrengt, versuchen sie, es mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dazu zu bringen, sich mehr anzustrengen. Wenn nun aber die fehlende Anstrengung gar nicht das Problem des Kindes ist, dann werden die Maßnahmen der Eltern zum Gegenteil dessen führen, was sie erreichen wollten.

Statt sich zu entspannen, was für das konzentrierte Lernen eine unabdingbare Voraussetzung ist, wird der Sohn immer mehr verkrampfen. Er wird für seine minimalen Leistungen immer mehr Aufwand benötigen und so lange ein Sorgenkind bleiben, bis seine Eltern damit beginnen, ihre Kind mehr für das zu loben, was es kann, als dafür zu tadeln, was es nicht kann oder (noch) nicht will.

… Als sie dann plötzlich die Zeit dafür gehabt hätte, verwarf sie den Wiedereinstieg und geriet wegen der unverplanten Zeit vorübergehend in eine Krise. Schließlich ergaben sich jedoch interessante neue Aufgaben, und als sie eigentlich kaum noch Zeit für ihren Sohn hatte, suchte Julian wieder verstärkt ihre Nähe. Er ließ sich gelegentlich freiwillig Lernstoff von ihr abfragen, arbeitete wesentlich konzentrierter und effizienter und hatte auch wieder mehr Lust auf gemeinsame Unternehmungen mit seinen Eltern.

Für Julian war besonders wichtig, dass er sich jetzt nicht mehr wie ein Sorgenkind vorkam. Er hatte nicht mehr das Grundgefühl, sich seiner Mutter gegenüber emotional verstellen zu müssen. Sein innerer Magnetismus gewann zunehmend an Kraft, was sich positiv auf seine Konzentrationsfähigkeit und Selbstorganisation auswirkte, ohne dass spezielle Übungen zur Steigerung der Konzentration erforderlich waren.

Zwar dauerte es noch über ein Jahr, bis er wieder an seinen alten schulischen Leistungsstand anknüpfen konnte, doch zwei Dinge sorgten dafür, dass er diese Zeit nicht als Belastung empfand. Zum einen gab ihm der positive Trend bei seinen Schulnoten Zuversicht, vor allem aber fühlte er sich nicht mehr als Spielball, sondern freute sich darüber, wieder selber mit den Bällen spielen zu können. Dies war buchstäblich bei seinen Tennisturnieren zu beobachten, bei denen es ihm gelungen war, Verkrampfung in Entspannung umzuwandeln.

Ich habe bewusst ein Fallbeispiel ausgewählt, bei dem es vorübergehend zu einem Mutter-Sohn-Problem kam, obwohl die Mutter nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hatte, ohne dabei zu bemerken, dass sie selbst ein Teil der von ihr bemängelten Umstände war. Natürlich kann niemand mit letzter Gewissheit sagen, was in der Erziehung richtig oder falsch ist. Ich unterstelle jeder Mutter und jedem Vater, dass sie das Aufwachsen ihrer Kinder nach bestem Wissen und Gewissen begleiten möchten. Doch manchmal können unbewusste Motive ihnen dabei einen Strich durch die Rechnung machen.

Dazu gehört aber auch, dass man sich selbst mit auf den Prüfstand stellt, wenn ein Kind in der Schule versagt und/oder unglücklich ist. Glaubt ein Elternteil Fehler gemacht zu haben, dann ist es wenig hilfreich, sich deswegen schuldig zu fühlen. Es kommt allein darauf an, neue Wege zu gehen, wenn man erkannt hat, dass die alten in die Irre führen.

6. Mutter-Typen – und wie Söhne darauf reagieren

Sollten Sie sich in einem der Mutter-Typen wiedererkennen, die ich im folgenden kurz skizziere, dann bitte ich Sie zu bedenken, dass Sie diesem Typ nie ganz entsprechen. Es handelt sich allenfalls um eine Teilpersönlichkeit von Ihnen, die in einer bestimmten Lebensphase dominant sein kann, die aber auch wieder in den Hintergrund tritt, wenn Sie anderen Teilpersönlichkeiten mehr Gewicht verleihen.

Die unglückliche Mutter

Typische Reaktion des Sohnes: Meine Mutter ist unglücklich. Ich will nicht unglücklich sein. Also muss ich immer das Gegenteil von dem tun, was meine Mutter will.

Die dominante Mutter

Typische Reaktion des Sohnes: Meine Mutter will mich beherrschen. Ich will nicht versklavt werden. Also muss ich mich meiner Mutter widersetzen, wo immer ich das kann.

Die klammernde Mutter

Typische Reaktion des Sohnes: Meine Mutter will mich verschlingen. Ich will nicht verschlungen werden. Also muss ich vor meiner Mutter fliehen.

Die ängstliche Mutter

Typische Reaktion des Sohnes: Meine Mutter hat Angst. Ich will keine Angst haben. Also muss ich mich vor meiner Mutter verschließen.

Die überfürsorgliche Mutter

Typische Reaktion des Sohnes:

  1. Meine Mutter erledigt alles für mich. Das ist toll. Also brauche ich mich um nichts zu kümmern.
  2. Meine Mutter will alles für mich regeln. Das ist zwar bequem, macht mich aber auch abhängig. Also werde ich ihr zeigen, wie sehr ich sie dafür hasse.

Bei alleinerziehenden Müttern gibt es zwei Reaktionsweisen, die besonders häufig vorkommen:

  1. Wird der Mutter bewusst oder unbewusst die Schuld für die Trennung zugewiesen, kann der Sohn ein starkes Bedürfnis entwickeln, sie dafür zu bestrafen. Je mehr die Mutter ihm zu verstehen gibt, wie wichtig ihr das Thema Schule ist, desto eher ist er geneigt, seinen Widerstand auf die Schulfront zu konzentrieren. Hat er einmal gemerkt, dass er seine Mutter an dieser Stelle empfindlich treffen kann, dann wird er jede Gelegenheit nutzen, um sie in schulischen Angelegenheiten zu nerven und zu enttäuschen. Dabei hat er kein schlechtes Gewissen, weil er sein Verhalten bewusst oder unbewusst als gerechten Rachefeldzug versteht.
  2. Identifiziert sich ein Junge mehr mit seinem nicht erziehungsberechtigten Vater, und hat er zu diesem weniger Kontakt, als er sich wünscht, kann er in Versuchung geraten, seiner Mutter gegenüber die Männerrolle spielen zu wollen. Wenn die Mutter dann auch noch ihren Sohn wie einen Partner behandelt, verliert sie ihre Autorität als Erziehungsperson. Der Junge hat dann leichtes Spiel, sich unbequemen Anforderungen durch den strategischen Einsatz seines Charmes zu widersetzen, oder mit Liebesentzug zu reagieren, wenn er einmal seinen Willen nicht durchsetzen kann.

Wenn ich bei Erstgesprächen Mütter mit der Einschätzung konfrontiere, dass sie maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie ihr Kind denkt, fühlt und handelt, reagieren sie auf den Hinweis sehr unterschiedlich. Einige verstehen ihn als Vorwurf, den sie weit von sich weisen, andere machen sich selber den Vorwurf, versagt zu haben. Beides ist wenig hilfreich und trifft nicht den Kern der Sache.

Der große Einfluss, den Mütter auf ihre Söhne haben, ist Chance und Risiko zugleich. Es geht allein darum, die positiven Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen und die Risiken zu minimieren. Das einzige, was man dazu zunächst braucht, ist die Bereitschaft, sich den wirklichen Ursachen für die schulische und familiäre Wirklichkeit der Kinder zu stellen.

7. Was denkt mein Sohn? Was fühlt mein Sohn?

Im Volksmund heißt es, man könne einem Menschen vor den Kopf schauen, aber nicht in ihn hinein. Zum Glück ist es aber möglich, dass ein Mensch selber in seinen Kopf hineinschauen kann. Die wenigsten sind dazu in der Lage, man müsste es jedoch sein, um Probleme an der Wurzel fassen zu können. Wenn ein Junge zum Beispiel bei einer Klassenarbeit von einer Blockade überfallen wird, dann ist dies nichts anderes als das Spiegelbild seiner körperlichen, geistigen und emotionalen Verfassung während der 2.700 Sekunden, die es gewöhnlich dauert, wenn er etwas Gelerntes bei einer Klassenarbeit zu Papier bringen soll.

Die entscheidende Frage lautet deshalb: Was denkt er, was fühlt er und wie leistungsfähig ist sein Körper während der Phase der Leistungsüberprüfung? Nur wenn es gelingt, diese Prozesse über die Bewusstseinsschwelle zu heben, besteht die Chance, sie in die richtige Richtung zu steuern. Entsprechendes gilt auch für das konzentrierte Lernen zu Hause, denn die Verfassung des Körper-Geist-Seele-Systems entscheidet über die Qualität der Abspeicherung von Informationen und somit indirekt auch über die Qualität des Abrufens bei Leistungsüberprüfungen.

Aus diesen Gründen spielt die Erforschung von Innenwelten bei meiner Arbeit eine zentrale Rolle. Die Schüler lernen, ihre Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen zunächst zu beobachten und dann im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu steuern. So gesehen ist es also durchaus möglich, in den eigenen Kopf hineinzuschauen.

Damit dieser Vorgang nicht als Gedankenkontrolle missverstanden wird, fordere ich die Schüler ausdrücklich dazu auf, nur Gedanken mitzuteilen, bei denen sie nicht befürchten, dass deren Preisgabe für sie mit Nachteilen verbunden sein könnte. Um dennoch ihre spezifische CPU-Auslastung realistisch einschätzen zu können, biete ich die ihnen Möglichkeit, sehr persönliche Informationen mit „X“ zu benennen und dazu einen Wert anzugeben, wie häufig ihnen der entsprechende Gedanke durch den Kopf geht und mit welchen Emotionen er verbunden ist. Dies hat sich als solide Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit bewährt.

Auch auf meiner Internetseite gewahrsein.net finden Sie zu diesem Thema ausführliche Informationen und konkrete Übungsanleitungen.

Besonders der mit starken inneren Bildern und emotionalen Impulsen „gesegnete“ Schülertyp, den ich gern als Schmetterlingstyp bezeichne, möchte am liebsten immer die Blüte anfliegen, die sich ihm jetzt öffnet und in diesem Augenblick an ihn verschenkt.

Es ist ein wichtiger Schritt in Richtung erwachsen werden, wenn der Schmetterlingstyp die Erfahrung macht, dass es sich manchmal lohnt, den mühsamen Weg zu einer weiter entfernten Blüte auf sich zu nehmen.

Das funktioniert nach meiner Erfahrung bestens über den Weg der Selbstbeobachtung, der das Gewahrsein in jedem Augenblick des Lebens erhöht.

Zum Vertrauen gehört auch meine Zusicherung, ihren Eltern nur die Informationen zukommen zu lassen, die sie freigegeben haben. In der Regel gibt es nur wenige Punkte, die sie vertraulich behandelt wissen wollen, sodass über diesen Umweg auch die Eltern Einblicke darin bekommen, welche der unzähligen Gedanken, die ihren Kindern täglich durch den Kopf gehen, besonders häufig auftauchen und mit starken Emotionen verbunden sind.

Manche Mütter glauben genau zu wissen, was in den Köpfen ihrer Söhne vor sich geht, doch wenn wir ehrlich sind, wissen wir das normalerweise nicht einmal von uns selbst. Wir brauchen uns nur zu fragen, wie viele der zigtausend Gedanken, die uns täglich durch den Kopf gehen, uns am Ende eines Tages noch bewusst sind. Wenn man bedenkt, dass jeder einzelne Gedanke einen Handlungsimpuls beinhaltet, ist es nicht übertrieben zu sagen: Der Kopf ist die Küche, in der die Mahlzeiten des Lebens gekocht werden.

8. Die entspannte Mutter – Ein Segen für Tochter und Sohn

Das gilt nicht nur für Lieblingsgerichte, sondern auch für negative Gedanken, die unser Nervenkostüm wie Mahlsteine in die Zange nehmen. Mütter sollten nicht alles wissen wollen, was sich in den Köpfen ihrer Söhne abspielt, doch sie sollten wissen, was ihre eigenen Gedanken, Gesten und Handlungen mit ihren Kindern machen. Das gilt sowohl für alles, was dem eigenen Kind guttut, als auch für Negativität, die man ihm einimpft.

Wie bereits erwähnt, sind die Sorgen der Mütter die Kräfte mit dem größten Zerstörungspotenzial. Söhne interpretieren diese Sorgen als Zeichen dafür, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Wenn sie in irgendeiner Form gegen ihre Mutter aufbegehren oder sich ihr verschließen, wehren sie sich meist nur dagegen, in eine Sorgestruktur verstrickt zu werden. Und umgekehrt ist die entspannte Mutter eine Kraftquelle, aus welcher der Sohn einen großen Teil der elementaren Energien bezieht, die er für ein konzentriertes und selbstbestimmtes Leben braucht.

Manchmal zeigen mir Mütter die letzten Zeugnisse ihrer Söhne, berichten über schwierige Umstände, in denen sie sich selber befinden, und fragen mich, wie sie angesichts dieser Situation entspannt sein könnten. Natürlich gibt es in jedem Leben Phasen extremer Anspannung, in denen der Hinweis, man solle sich entspannen, wie blanker Hohn klingt. Doch wenn man realisiert hat, dass die Anspannung die vorhandenen Probleme nur noch vergrößert, kann man zumindest überprüfen, ob es bestimmte Bereiche gibt, aus denen man etwas Spannung herausnehmen kann.

Vor allem aber kann man – solange man unter starker Anspannung steht – den Grundsatz beherzigen, alles zu unterlassen, was nicht unbedingt notwendig ist, da Negativität zwangsläufig Negativität erzeugt. Warten Sie am besten, bis Sie wieder mit sich im Reinen sind, und teilen Sie dann die positiven Energien mit Ihrem Sohn. Dinge, die vorher noch mit großen Widerständen verbunden waren, gehen dann meist leicht von der Hand. In diesem Punkt habe ich bisher keine geschlechtsspezifischen Unterschiede feststellen können. Die entspannte Mutter ist auch für die Tochter ein Segen.

Was ein Schüler denkt und was er fühlt, entscheidet darüber, ob er entspannt oder verkrampft ist, und vor allem davon hängt es ab, ob er sein Potenzial gut oder schlecht in Leistung verwandeln kann. Als entspannte Mutter leisten Sie einen kaum zu überschätzenden Beitrag dazu, dass ersteres auf Ihren Sohn zutrifft. Wenn es Ihnen dann auch noch gelingt – in Eigenregie oder durch Unterstützung Dritter –, externe Ursachen für Konzentrationsstörungen aufzudecken und zu beseitigen, dann haben Sie Ihrem Sohn wirklich alles gegeben, was er für seine geistige Entwicklung und sein emotionales Gleichgewicht braucht.

Und dann gibt es weder für Sie noch für Ihren Sohn einen Grund, sich über irgendetwas ernsthafte Sorgen zu machen. Sollte Ihnen dieses Fazit zu einfach erscheinen, so kann ich Ihnen aus den Erfahrungen mit Hunderten von Müttern und Söhnen versichern, dass sich vor allem an dieser Stelle entscheidet, ob die Dinge zu Hause und in der Schule ins Stocken geraten oder in Fluss kommen.

Die oben unter Kapitel 5 beschriebene Geschichte von Julian und seiner Mutter ist keine Erfindung, ebenso wenig wie die von Jakob auf der Unterseite Hausaufgaben … Kapitel IV. Das familiäre Klima, insbesondere das Klima beim gemeinsamen Lernen, gehört nach meiner Einschätzung zu den am meisten unterschätzten Faktoren, die darüber entscheiden, wie lange ein Kind für seine Hausaufgaben braucht und wie gut es sie erledigt.

9. Was können Mütter tun? – Zehn Tipps fürs Lernen zu Hause

Wäre bei Ihrem Sohn alles im grünen Bereich, würden Sie diese Zeile wahrscheinlich nicht lesen. Dass Kinder während ihrer Schullaufbahn irgendwann einmal größere Probleme bekommen, ist aber eher die Regel als die Ausnahme. Wenn man dann das Richtige tut, gibt es kein wirkliches Problem. Im Prinzip ist die Lösung ganz einfach, was nicht heißt, dass sie sich immer leicht umsetzen lässt. Doch wenn Sie den folgenden Weg gehen, können Sie nach meinen Erfahrungen zuversichtlich sein, dass sich die Dinge dort zum Besseren wenden, wo es Korrekturbedarf gibt:

Gehen Sie den Ursachen auf den Grund, warum Ihr Sohn unkonzentriert ist und sein Potenzial nicht voll ausschöpfen kann.

  • Schreiben Sie die Stärken und Schwächen, die Sie bei Ihrem Sohn sehen, stichpunktartig auf.
  • Versuchen Sie, Ihren eigenen Anteil daran einzuschätzen.
  • Bewerten Sie Ihren Sohn auf einer Skala von 0 bis 10 bezüglich Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstverantwortung und schätzen Sie ein, welchen positiven oder negativen Einfluss Sie darauf haben.
  • Teilen Sie die Defizite, die nichts mit Ihnen zu tun haben, in veränderbar und unveränderbar ein.
  • Teilen Sie erstere in Dinge ein, die Ihr Sohn selber verändern kann, und die sich seinem Einfluss entziehen.
  • Handeln Sie mit Ihren Sohn einen Plan aus, wie er seinen Eigenanteil an positiven Veränderungen einbringen kann.
  • Unterstützen Sie Ihren Sohn im Rahmen Ihrer Möglichkeiten bei den negativen Rahmenbedingungen, die sich seinem Einfluss ganz oder teilweise entziehen, zum Beispiel das Verhältnis zu bestimmten Lehrern oder Schülern.
  • Ermöglichen Sie ihm die Inanspruchnahme von Fördermaßnahmen, sofern bestimmte Defizite nicht in Eigenregie aufgearbeitet werden können.
  • Holen Sie sich qualifizierte Unterstützung von außen, bei allen Fragen, die Sie nicht selber klären können.
  • Wenn Sie all dies getan haben, begeben Sie sich in eine entspannte Beobachterrolle, in dem Bewusstsein, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende für Ihren Sohn tun.